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Titel
Frauenstimmrecht. Historische und rechtliche Entwicklungen 1848–1971


Autor(en)
Studer, Brigitte; Wyttenbach, Judith
Erschienen
Zürich 2021: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
405 S.
von
Werner Seitz

Mit einer beeindruckend grossen Zahl von Veranstaltungen und Publikationen wurde in der Schweiz 2021 50 Jahre Frauenstimmrecht thematisiert, unter verschiedenen Aspekten und mit unterschiedlicher Tonalität. Etwas abseits des Medienrummels erschien das Buch von Brigitte Studer, emeritierte Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern, und Judith Wyttenbach, Professorin für Staats- und Völkerrecht an derselben Universität. In ihrer Publikation analysieren die beiden Wissenschaftlerinnen kenntnisreich die Auseinandersetzungen um das Frauenstimmrecht in der Schweiz bis zu dessen Einführung im Jahr 1971, in historischer und rechtshistorischer Hinsicht. Sie legen allerdings kein gemeinsam verfasstes Werk vor, es besteht vielmehr aus zwei eigenständigen Teilen.

Der erste Teil, von Brigitte Studer verfasst, beleuchtet in einem ersten Schritt die Geschichte des Frauenstimmrechts. Bei der Periodisierung charakterisiert die Autorin die Zeit bis 1872/74 als «konzeptionelle Emergenzphase», die Zeit danach als «organisationale und politische Konstruktionsphase». In letztere fällt die Durchführung des ersten Frauenkongresses und die Gründung des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht (1909). Von 1916/17 bis 1921 ortet Brigitte Studer ein erstes Opportunitätsfenster. Der Frauenstimmrechtsverband manövrierte sich jedoch angesichts der Forderung des Generalstreiks nach dem Frauenstimmrecht in eine Sackgasse. Nach Jahren, die durch Stagnation und Rückschläge gekennzeichnet waren, setzte Ende des Zweiten Weltkrieges wieder eine kurze Phase des Aufbruchs ein. Die Frauenstimmrechtsbewegung formierte sich neu und auf eidgenössischer und kantonaler Ebene gab es verschiedene Vorstösse. Diese hatten jedoch alle keine Chance.

In den 1950er Jahren holten sich die Aktivistinnen die nationale Ebene als Handlungsraum zurück. Sie brachten alternative Taktiken wie die Einführung des Frauenstimmrechts über eine Verfassungsinterpretation ins Spiel und erzwangen 1959 die erste nationale Abstimmung. Der niedrige Anteil der Ja-Stimmen von nur 33 Prozent war ein Schock. Darauf setzte nach Brigitte Studer die Periode der «progressiven Radikalisierung» ein. Die Aktivistinnen erweiterten ihr Aktionsrepertoire, etwa um Aktivitäten für den Eintrag von Frauen ins Stimmrechtsregister. Einen Höhepunkt der Radikalisierung markierte die Frauendemonstration in Bern von 1969. Der Bundesrat legte bald darauf eine Botschaft für die Einführung des Frauenstimmrechts vor. Angesichts der «Evidenz der Unvermeidlichkeit der politischen Gleichberechtigung» implodierte der Widerstand: Das Frauenstimmrecht wurde im Parlament und darauf an der Urne angenommen. Zu diesen klar strukturierten historischen Ausführungen von Brigitte Studer gibt es acht Schweizer Karten mit kantonalen Abstimmungsergebnissen über verschiedene Frauenstimmrechtsvorlagen.

In einem zweiten Schritt analysiert Brigitte Studer das Handlungsrepertoire der Aktivistinnen für das Frauenstimmrecht. Dieses war bescheiden, denn ihnen war ja der Zugang zu den wichtigsten politischen Instrumenten verwehrt (Volksrechte, Mitwirkung im Parlament). Im Grunde blieb ihnen nur die Petition, ihre eigenen Presseerzeugnisse und die Entsendung von Delegationen zu den Behörden. Diese Möglichkeiten nutzen die Aktivistinnen rege, aber weitgehend ohne Erfolg. Auf militante Protestformen verzichteten die bürgerlichen Frauen bewusst.

Für die Analyse der verwendeten Argumente für oder gegen das Frauenstimmrecht stützt sich Brigitte Studer auf parlamentarische Debatten sowie auf Berichte und Publikationen auf eidgenössischer Ebene und in ausgewählten Kantonen. Zu den über den gesamten Zeitraum hinweg verwendeten Argumenten gehört das Gerechtigkeitsargument, die Gegner wiederum beriefen sich auf die «natürliche Geschlechterordnung», welche den Frauen ihren Platz im Haus zuweise. Es gab auch Argumente, die sich regional und vor allem mit der Zeit änderten oder neu dazu kamen. So tauchte etwa das Argument, dass die Landsgemeinde durch die Teilnahme der Frauen in ihrem Bestand bedroht sei, erst in der Nachkriegszeit auf.

Im zweiten Teil stellt Judith Wyttenbach, teilweise zusammen mit Doktorandinnen, die Geschichte der rechtlichen Diskurse über das Frauenstimmrecht dar. Hier findet sich für rechtshistorisch weniger Vertraute viel Neues, verständlich und weitgehend systematisch dargestellt. Judith Wyttenbach zeigt auf, dass das Frauenstimmrecht in den zahlreichen juristischen Publikationen von 1848 bis weit ins 20. Jahrhundert kaum ein Thema war, und wenn, dann ging man wie selbstverständlich davon aus, dass es eine «natürliche Differenz» zwischen den Geschlechtern gäbe und dass das Politische zum Mann gehöre. Erste Staatsrechtler, die sich, wenn auch zurückhaltend, für das Frauenstimmrecht aussprachen, waren etwa 1877 Jakob Dubs, Bundesrat in den 1860er Jahren, sowie 1897 Carl Hilty, der auch Nationalrat war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Äusserungen der Gegner zurückhaltender und jene der Befürwortenden zahlreicher. Klare Positionsbezüge für das Frauenstimmrecht gab es etwa von Werner Kägi oder, dezidiert, von Gertrud Heinzelmann. Gleichwohl nahmen weder die Rechtswissenschaft noch das Bundesgericht den Ball auf, den ihnen die Aktivistinnen für das Frauenstimmrecht mit ihrer Taktik-Änderung zuspielten: Sie lehnten die Forderung, das Frauenstimmrecht über den Weg der Neuinterpretation der Verfassung einzuführen, genauso ab wie die Forderung nach Eintrag von Frauen ins Stimmregister. Sie alle verwiesen auf den Weg der Verfassungsänderung. Dieser bedeutete, dass die Mehrheit der männlichen Stimmenden und der Stände einverstanden sein musste, dass den Frauen ein Menschenrecht zugestanden würde. Damit obsiegte das historisch und gewohnheitsrechtlich interpretierte Männerdemokratieprinzip über den Anspruch der Frauen auf politische Gleichstellung.

Bei den Ausführungen über den Umgang mit den Forderungen nach Eintrag ins Stimmregister oder nach Verfassungsinterpretation wäre der eine und andere Querverweis auf den historischen Teil von Brigitte Studer über die alternativen Strategien der Frauenorganisationen sicher hilfreich gewesen (und auch umgekehrt). Generell hätten stärkere inhaltliche Querverbindungen zwischen den beiden Teilen den Mehrwert des Buches gesteigert.

Abgeschlossen wird die Studie mit einem Kapitel über die Frage, weshalb es denn in der Schweiz so lange gedauert habe mit der Einführung des Frauenstimmrechts. Eine Antwort findet sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts beim Staatsrechtler Carl Hilty: Es fehlte der Wille der Männerbehörden und des Männerstimmvolkes, Macht zu teilen. Für die Durchsetzung ihrer ablehnenden Haltung liessen sich über Jahrzehnte hinweg die Verfassung, die politischen Institutionen und Strukturen sowie der Föderalismus bestens einsetzen. Im Fazit wird auch die interessante These resümiert, welche Brigitte Studer schon in früheren Aufsätzen formuliert hatte: Die FDP, welcher sich die Aktivistinnen für das Frauenstimmrecht am stärksten verbunden erachteten, mass dem Frauenstimmrecht keine Bedeutung zu. Ihr war die Stabilisierung des bürgerlichen Machtblocks im Bundesrat wichtiger und sie wollte die Zusammenarbeit mit den Katholisch-Konservativen und der BGB, beides vehemente Gegner des Frauenstimmrechts, nicht belasten. Diese These ist sehr plausibel. Es würde sich lohnen, sie in einer eigenen Studie noch weiter zu überprüfen.

Am Schluss stellen die beiden Autorinnen, die sich ansonsten mit Wertungen zurückhalten, kritische Fragen an das politische System und die Akteure und verlangen, dass die Geschichte des Ausschlusses der Frauen in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik reflektiert werde. Dies sei nicht nur eine Form, Unrecht anzuerkennen. Es können damit auch Grundlagen gewonnen werden, das Demokratieverständnis in der Schweiz weiterzuentwickeln und diskriminierende Ausschlüsse in einer Demokratie zu erkennen und zu überwinden.

Die vorliegende Studie von Brigitte Studer und Judith Wyttenbach leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Dank des vielfältigen und verständlich eingeordneten Materials ist sie unter den mittlerweile zahlreichen Publikationen über das Frauenstimmrecht in der Schweiz das umfassendste und aktuellste Werk.

Zitierweise:
Seitz, Werner: Rezension zu: Studer, Brigitte; Wyttenbach, Judith: Frauenstimmrecht. Historische und rechtliche Entwicklungen 1848–1971, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 94-96. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

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